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Im gesamten Landkreis stößt man allerorts auf Stellenanzeigen und Aushänge wie „Wir brauchen Dich“ und hört aus quasi jedem Mund die Frage, ob man nicht jemanden wisse, der „anfangen“ könne. Die

Suche nach Arbeitskräften

betrifft dabei nicht nur Hotel- und Gaststättengewerbe, Geschäfte in der Innenstadt oder Wirtschaftsunternehmen, sondern auch und gerade soziale Einrichtungen wie beispielsweise die Lebenshilfe Freising. Worin das größte Problem liegt, warum gerade jetzt so ein Fachkräftemangel herrscht und wie dagegen angegangen werden könnte, beantwortet Geschäftsführer der Lebenshilfe Freising, Johannes Reicheneder, in einem Interview mit Nicola Bauer, Referentin für Presse- und Öffentlichkeitsarbeit bei der Lebenshilfe Freising.

Interview mit Johannes Reicheneder zum Fachkräftemangel

Herr Reicheneder, Mitte November hat die Lebenshilfe Bayern gemeinsam mit ihren Delegierten die Resolution „Dem Fachkräftemangel begegnen – nachhaltige Lösungen JETZT finden und umsetzen“ verfasst und auf der Mitgliederversammlung verabschiedet.

Das ist richtig. In vielen Einrichtungen der Lebenshilfe in Bayern fehlt es bereits an Personal – wie im gesamten Sozial- und Gesundheitswesen auch. Dieser Fachkräfte- und vor allem Personalmangel wirkt sich immer öfters auf Unterstützungsangebote für Menschen mit Behinderungen und deren Familien aus. Deshalb müssen endlich zukunftsfähige Perspektiven entwickelt und nachhaltige Lösungen gefunden werden – für die Eltern und Angehörigen, für das Personal, für die Einrichtungen und vor allem für die Menschen mit Behinderungen selbst.

Was wird in der Resolution konkret gefordert?

Die Lebenshilfe Bayern fordert neben guten wirtschaftlichen und organisatorischen Rahmenbedingungen unter anderem eine für unsere Branche durchgehend staatlich geförderte Ausbildung, für die kein Schulgeld erhoben werden muss. Diese sollte in angemessener Dauer Menschen als Fachkräfte in den Beruf bringen, auf gezielte Anreize für freiwilliges Engagement insbesondere auch von jungen Menschen setzen sowie attraktive und finanziell unterstützte Weiterbildung und Qualifizierung von Mitarbeitenden und Quereinsteigenden bieten. Zusätzlich soll die Bürokratie ab- und die Teilhabe ausgebaut werden.

Und wie soll das umgesetzt werden? Was fordern Sie?

Neben den dringend notwendigen langfristigen Perspektiven wie etwa der Schaffung wirtschaftlicher und organisatorischer Rahmenbedingungen für attraktive Arbeitsbedingungen, einer kostenfreien Ausbildung aller Berufsbilder im Sozial- und Gesundheitswesen sowie guter Bezahlung und der finanziellen Unterstützung von Weiterbildung und Qualifizierung von Mitarbeitenden und Quereinsteigenden, braucht es unbedingt auch kurz- und mittelfristige Maßnahmen, um Teilhabe für Menschen mit Behinderungen, gute Arbeitsbedingungen für Mitarbeitende und ein hohes Maß an Fachlichkeit sicherzustellen.

Auch die Anreize für freiwilliges Engagement wie dem Freiwilligen Sozialen Jahr oder dem Bundesfreiwilligendienst müssen gestärkt werden, um insbesondere junge Menschen für die Berufe zu gewinnen.

Tut sich denn noch gar nichts in dieser Hinsicht?

Ich stelle fest, dass gerade im Bereich der Kitas und der Schulen sehr gute Wege staatlicher Förderung kreiert werden, um der Personalkrise entgegenzuwirken. Ich würde mir aber wünschen, dass in gleicher Weise auch die Berufsbilder gefördert werden, die wir in unseren Einrichtungen des gemeinschaftlichen Wohnens benötigen. Damit meine ich das Berufsbild Heilerziehungspfleger*in.

Es braucht einfach weniger Bürokratie für mehr Teilhabe! Wenn wir von weniger Bürokratie sprechen, dann meine ich damit, dass jede Minute der Dokumentation der Zeit am Menschen weggenommen wird. Also dort, wo eigentlich die Leistung, die Zuwendung, die Assistenz, die Pflege, die Fürsorge, der Blickkontakt hingehört. Das ist übrigens keine neue Forderung. Die gibt es schon lange. Nur in den letzten Jahren haben sich die Anforderungen noch einmal drastisch verschärft, weil stets Haftungsfragen bei Aufsichtsbehörden eine Rolle spielen und weniger Haltungsfragen in den Vordergrund gestellt werden.

Hat die Lebenshilfe Freising auch an der Resolution mitgewirkt?

Ja, bei der Resolution haben Monika Haslberger, unsere erste Vorsitzende, und ich mit vielen anderen sehr engagierten ehren- und hauptamtlichen Kolleg*innen sowie Selbstvertreter*innen mitgewirkt. Die Resolution ist also ein ernster Appell der gesamten Lebenshilfe Familie in Bayern.

Welche Gefahr besteht generell, wenn zunehmend weniger Fachkräfte zur Verfügung stehen?

Ganz einfach: Wir können unsere Klient*innen nicht mehr angemessen betreuen und wir müssen Angebote und Dienste einschränken, wenn nicht sogar aufgeben. Kein beziehungsweise zu wenig Personal führt zu weniger Teilhabe für Menschen mit Behinderung. Was das alles nach sich zieht, möchte ich mir gar nicht ausmalen. Nicht umsonst heißt es in der Resolution „… Lösungen JETZT finden…“ und nicht erst irgendwann. Der Fachkräftemangel darf auf keinen Fall dazu führen, dass die fachlichen Standards abgesenkt werden.

Die UN-Behindertenrechtskonvention und das Bundesteilhabegesetz haben die Rechte von Menschen mit Behinderungen deutlich gestärkt. Ohne das hierfür notwendige Personal können die Ansprüche jedoch nur bedingt beziehungsweise nicht umgesetzt werden – das darf keinesfalls akzeptiert werden.

Wäre der Ausbau der Digitalisierung ein Mittel, um dem Mangel entgegen zu wirken?

Manchmal höre ich tatsächlich gut gemeinte Ratschläge, die in etwa so gehen: „Macht Euch auf den Weg der Digitalisierung, dann spart ihr Arbeitsplätze ein, ihr findet eh niemand mehr.“ Das ist ehrlich gesagt völliger Quatsch. Die Digitalisierung verschlankt unsere Verwaltungsprozesse und unterstützt vielleicht an vielen Stellen die bürokratischen Dokumentationserfordernisse. Wir arbeiten täglich daran, hier besser und digitaler zu werden, was uns übrigens Jahr für Jahr eine Stange Geld kostet. Digitalisierung kann aber Menschen, die sich um Menschen kümmern, nicht ersetzen!

Die Lebenshilfe Bayern will deshalb weiterhin attraktive Arbeitsbedingungen in ihren Einrichtungen und Diensten der Eingliederungshilfe ermöglichen. Dafür müssen von Politik und Behörden gute Rahmenbedingungen geschaffen werden. Nur so kann ein gutes soziales Miteinander, Inklusion und Teilhabe aller im Sozialraum, wie wir zu sagen pflegen, verwirklicht werden.

Wie ist es bei der Lebenshilfe Freising um die Teilhabe bestellt? Werden Sie Ihrem Motto „… damit Teilhabe gelingt“ gerecht?

Der Bedarf an Angeboten der Eingliederungshilfe ist beständig hoch, die Aufrechterhaltung aller Angebote jedoch stark gefährdet. Der notwendige Ausbau bestehender Strukturen sowie die Entwicklung neuer Angebote sind aufgrund des Personalmangels teilweise nicht mehr möglich. Das tragische ist: Innovationen sind da, wir benötigen dazu aber Menschen. Darüber hinaus müssen auch bei den anderen Lebenshilfen in Bayern bereits erste Angebote geschlossen beziehungsweise können Leistungen nur noch reduziert vorgehalten werden.

Wie geht es den Mitarbeitenden der Lebenshilfe Freising mit dieser angespannten Situation?

Das vorhandene Personal muss die fehlenden personellen Ressourcen ausgleichen und stößt hier zunehmend an die eigenen Belastungsgrenzen. Daraus resultieren Überlastungen, Stress, Krankheitstage und in letzter Konsequenz auch eine Abwanderung der dringend benötigten Mitarbeitenden. Wie man aus der Presse weiß und auch in anderen sozialen Einrichtungen sieht, fehlt es den benötigten Berufen auf allen Ebenen an der nötigen Wertschätzung und Attraktivität.

Viel zu spät haben die Tarifvertragsparteien erkannt, dass die Bezahlung der sogenannten Care Berufe völlig unangemessen ist. In den letzten Jahren haben zwar, das muss man ehrlicherweise sagen, die Gehälter wieder angezogen. Diese Reparatur kommt aber zu spät. Auf die Auswirkungen der Corona Pandemie und der einrichtungsbezogenen Impfpflicht möchte ich hier gar nicht eingehen. Der TVöD, der den damaligen BAT abgelöst hat, war gewissermaßen ein neoliberales Konstrukt, das die Gehälter künstlich verringerte und auf ein Leistungsprinzip setzte, das nach meiner Wahrnehmung keiner umsetzen konnte oder wollte. Was heute davon übrig geblieben ist, ist ein fast grotesker Wettkampf der Sozialunternehmen um die wenigen Menschen, die sich noch in der Branche befinden. Einzelne Träger zahlen sogar Antrittsprämien. Das sind Tendenzen, die ich besorgniserregend finde.

Gibt es Ideen bei der Lebenshilfe Freising, wie dem Fachkräftemangel begegnet werden könnte?

Ja, die gibt es! Wir bilden aus. Dieses Jahr konnten wir wieder 28 Auszubildende bei der Lebenshilfe Freising begrüßen und die letzten Ausbildungsjahrgänge haben uns gezeigt, dass es zumeist private Gründe sind, nicht bei der Lebenshilfe Freising zu bleiben. Das heißt: Wir haben nahezu eine Übernahmegarantie.

Darüber hinaus müssen wir darauf achten, dass die Kolleg*innen, die uns die Treue halten, erstens genügend Wertschätzung erfahren – dazu haben wir uns tatsächlich ein paar Dinge überlegt – und zweitens gesund bleiben. Wir brauchen also Arbeitsbedingungen und Arbeitszeiten, in denen sich Menschen in unterschiedlichen Alters- und Lebensphasen sowohl in ihrem Berufs- als auch in ihrem Privatleben wiederfinden können. Ich gebe zu, dass man nicht immer nur die Politik auffordern kann, zu handeln. Hier sind schon unsere eigenen Ideen gefragt. Aber wir sind kreativ bei der Lebenshilfe Freising und werden uns hier stark verbessern.

Obwohl im ganzen Land Arbeits- und Fachkräfte fehlen, stellen 40.000 Unternehmen trotzdem keine Menschen mit Behinderung ein. Warum?

Weil die rechtlichen Rahmenbedingungen für einen sozialen und inklusiven Arbeitsmarkt dringend erst einmal auf den Weg gebracht werden müssen. Die jetzt vorgesehene Erhöhung der Ausgleichsabgabe kann nur ein erster Schritt sein.

Natürlich müssen dann die Menschen mit Behinderung, die derzeit in den Werkstätten arbeiten, auch von ihrer Arbeit leben können und unabhängig von der Grundsicherung sein. Sie leisten ganze Arbeit, da ist es nur fair, sie auch angemessen zu bezahlen. Menschen mit Behinderung brauchen also Unterstützung bei der Arbeit an jedem Arbeitsplatz in einer Werkstatt für Menschen mit Behinderung und auf dem sogenannten ersten Arbeitsmarkt. Es braucht eine Stärkung ihrer Bildung und Ausbildung. Ist das gegeben, stehen uns tolle Arbeitnehmer*innen zur Verfügung.

Vielen Dank für das Gespräch!

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